Charles-Marie Widor, Messe fis-Moll
Bericht Rems Zeitung vom 06.08.2014
Festival Europäische Kirchenmusik
Philharmonischer Chor und Münsterchor führten die Messe fis-Moll von Widor auf
Konzert (-ry). Die Festival-Chöre der Stadt, die im dreijährigen Turnus konzertieren, übernehmen in den Zwischenjahren oft eine Gottesdienstgestaltung. Das Heft für die Festeucharistie im Heilig-Kreuz-Münster konstatierte fast prosaisch: "Zwei Chöre gestalten eine festliche Messe". Dahinter verbarg sich weit mehr: Der Philharmonische und der Münsterchor musizierten am Sonntag gemeinsam das Opus 36 von Charles-Marie Widor, die Messe fis-Moll für zwei Chöre und zwei Orgeln.
Zugrunde lag die ausgezeichnete Verlagsedition von Dr. Butz (Bonn), die es ermöglicht, in einfacheren Verhältnissen das populäre Werk zu musizieren. Gegenüber dem 200 Sänger umfassenden Baritonchor mit der großen Orgel von Saint-Sulpice in Paris und den 40 Sängern des gemischten Knaben-/Männerchores mit der 21-registrigen Chororgel gab die Gmünder Chorkooperation einen angemessenen Eindruck. Susanne Rott an der großen Klais-Orgel auf der Empore und Martin Thorwarth an der digitalen Ahlborn-Orgel Praeludium IV teilten sich den Orgelpart. Alleine aufgrund der räumlichen Gliederung war das Ganze ein akustisches Erlebnis - ganz zu schweigen von der spirituellen Kraft, die von der Messe ausging.
Einmal mehr belegte der wunderbare Gottesdienst, dass Musik die Liturgie nicht bloß "umrahmt", sondern nach dem II. Vatikanischen Konzil Teil der Liturgie ist, die wiederum als "Spiel vor Gott" verstanden wird. Liturgisch konsequent sangen die Chöre im Altarraum, dem "Chor"raum. Das Ganze hatte etwas Paradiesisches, in der Geborgenheit des Menschen in Gott. Dann darf, muss das Lob Gottes aus vollem Herzen gelingen.
Auch das Orgelliteraturspiel bot ausschließlich Widor: Zum Einzug "Marcia" aus der 3. Orgelsinfonie, zur Kommunionspendung das "Adagio" der 5. und zum Auszug die berühmte "Toccata", ebenfalls aus der 5. Orgelsinfonie.
Die Gemeinde stimmte mit Gesängen der Liturgie und Liedern bis zum "Te Deum" ein. Münsterpfarrer Robert Klokers Predigt nahm nicht nur die Jesaja-Lesung (55, 1-3) und das Tagesevangelium (Matthäus 14, 13-21) auf, sondern zitierte Meister Eckhart, Friedrich Nietzche ("Doch alle Lust will Ewigkeit") und den hl. Augustinus (aus seinen Bekenntnissen: "Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, oh Herr") und spannte so einen Bogen von der Lebenswirklichkeit der Menschen in aller Vorläufigkeit bis zum bleibenden Glück in Gott. Der Prediger warnte vor der Überforderung anderer und von sich selbst, eben nicht alles geben zu können, sondern riet, über sich hinaus zu "hoffen auf ein bleibendes Glück, auf das wir angelegt sind".
Die Einheit der Botschaft in Wort und Musik war das Beglückende dieses Gottesdienstes. Wie schön, dass Susanne Rott in ihrer Widor-Interpretation angemessene Tempi und klare Phrasierungen gegen alle rücksichtslos- "sportliche" Konkurrenz favorisierte; nur so konnte man die Orgelwerke gründlich genießen.
Stephan Beck als Motor der Kirchenmusik am Münster hatte nicht nur auf seine beiden Vertreter "abgefärbt", sodass das Musizieren aller mit- und ineinander vorzüglich gelang; er hatte auch im Dirigieren der fis-Moll-Messe einen so feinen Zugang zu dem frommen Werk, dass die übergroße Gottesdienstgemeinde förmlich angesteckt wurde. Die rhythmisch wie interpretatorisch anspruchsvolle, keineswegs triviale Partitur verlangt ein adäquates Mitgehen, ein Ausdeuten des Textes, ein musikalisches Ausleuchten der Facetten. Man spürte durchgängig die Begeisterung der Chöre, und das Wechselspiel der Orgeln ließ immer wieder aufhorchen. Das dynamische Auf und Ab in allen Feinheiten, die Eindringlichkeit zwischen dem oft exponierten Baritonchor und dem vierstimmig gemischten Chor ließ kein bloß passives Hören zu. Am eindrücklichsten teilte sich das Agnus Dei mit in der Bitte um Erbarmen und Frieden.
Was Stephan Beck meisterhaft beherrscht, ist das Aufbauen von (ganz natürlicher) Spannung. Und seine Schlüsse tragen in ihrer Ruhe etwas von ewiger Dauer. Das war nicht eben Konzert, sondern lebendiges Gotteslob. Und wie schön, dass die Gemeinde dem Orgelnachspiel andächtig lauschte, bis der Beifall umso heftiger aufbrandete. Ein Gottesdienst, der allen gut getan hat.
Zur Messvertonung:
Charles-Marie Widor wurde 1844 in Lyon geboren. Seine intensive Beziehung zur Musik und speziell zur Orgel wurde durch den Großvater, einen Orgelbauer aus dem Elsass und durch den Vater, Titularorganist an Saint-Francois-de-Sales sowie Komponist und Orgellehrer, früh geprägt. Auf die Frage nach seinen musikalischen Wurzeln antwortete Widor: "Ich erblickte gewissermaßen in einer Orgelpfeife das Licht der Welt." Er erhielt den ersten Orgelunterricht bereits mit vier Jahren vom Vater. Auf Empfehlung Cavaillé-Colls war Widor 1862/63 am Brüsseler Konservatorium Schüler von Jacques-Nicolas Lemmens. In die Musikgeschichte ist Widor eingegangen als "Vater der Orgelsinfonie". Allerdings schrieb er neben Orgelmusik auch Chorkompositionen, dramatische Werke und Kompositionen für fast alle Gattungen der Instrumentalmusik, darunter auch sinfonische Werke und Kammermusik.
Widor unterrichtete am Pariser Konservatorium ab 1890 als Nachfolger César Francks Orgel und seit 1896 Komposition als Nachfolger von Dubois. Zu seinen Schülern zählen Louis Vierne, Albert Schweitzer, Marcel Dupré, Arthur Honegger und Darius Milhaud. 64 Jahre lang (von 1870 bis 1934) war Widor Titular-Organist an der Grand Orgue in Saint-Sulpice in Paris, kirchenmusikalisch eine der bedeutendsten Kirchen Frankreichs.
Für den Gebrauch in ebendieser Kirche war auch die 1878 komponierte Messe fis-Moll op. 36 für zwei Chöre und zwei Orgeln bestimmt. Aufgrund des großen Anklangs wurde sie viele Male im Gottesdienst in Saint-Sulpice aufgeführt. Allein die von Widor geschickt genutzten dramatischen antiphonalen Effekte zwischen den Chören, der Chororgel und der großen Orgel sind sehr beeindruckend und dienen dem Hauptanliegen des Komponisten, durch eine imposante und würdevolle Kirchenmusik die Feierlichkeit und Erhabenheit der Liturgie zu steigern. Ein zeitgenössischer Kritiker schrieb über die Messe: "Sie hat die Strenge von Bach und Händel, verbunden mit der einnehmenden Mendelssohnschen Anmut und ist durch den katholischen Geist beflügelt. Das Agnus Dei ist eine der feinsten und inspiriertesten Schöpfungen Widors."
(Aus dem Vorwort der Butz-Ausgabe von Alexander Därr)