Strahlkraft und Motivation sondergleichen
Bericht Rems Zeitung vom 11.12.2018
Der Philharmonische Chor unter der Leitung von Stephan Beck führte Bachs Weihnachtsoratorium im Münster auf

(Foto vog)
Am Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria J. S. Bachs Weihnachtsoratorium in Erwartung des Christfestes aufzuführen, bedeutet die Klammer der Menschwerdung des Gottessohnes musikalisch zu deuten.
KONZERT (-ry).Seit 2017 nahm KMD Stephan Beck die Tradition seines Vaters, KMD Hubert Beck, wieder auf. Früher gab es sogar zwei Aufführungen. Das voll besetzte Heilig-Kreuz-Münster war der Beleg für das Bedürfnis einer großen Hörergemeinde nach diesem wohl populärsten Werk des Thomaskantors.
Der Philharmonische Chor, die Sinfonietta Tübingen und junge aufstrebende Solisten gestalteten die Kantaten I-III und ermöglichten so den Zuhörern ein konzentriertes Aufnehmen im Gegensatz zu Präsentationen aller sechs Kantaten, dann um den möglichen Preis von Kürzungen der Da-capo-Teile von Arien.
Das Musizieren auf modernen Instrumenten erlaubte einen intonationsreinen Vortrag, wobei die Durchsichtigkeit dank der „informierten“ Spielweise kammermusikalische Qualität zeugte: strahlende Trompeten und Pauken, wunderbares Holz, distinguierte Streicher und eine bestens präsente Continuogruppe mit dem Besigheimer Bezirkskantor und Becks Kollegen an der Stuttgarter Musikhochschule, Tobias Horn, am differenziert „traktierten“ Orgelpositiv. Der Philharmonische Chor war an Zahl, Strahlkraft und Motivation nicht zu überbieten. Dies alles waren optimale Voraussetzungen für eine stringente Interpretation des Weihnachtsoratoriums.
Hatte schon Hellmuth Rilling zu Recht auf die (fast schon) dogmatische Verengung durch die (hypothetische) historische Aufführungspraxis hingewiesen und die in langen Zeiträumen gewachsenen Hörgewohnheiten favorisiert, so hatte sich Beck für einen vernünftigen Kompromiss entschieden: eine durchaus szenisch-dramatisch zusammenhängende Gestalt mit dem äußeren Indiz eines unauffälligen Hinsetzens und Aufstehens des Chores, alles ohne störend längere Pausen. Ob nach vielen Jahren die Rückkehr zur veralteten Sprache („kömmt“, „vor“ statt „für“, „Hülf’“ statt „Hilf’“ …) nötig ist, darüber mag man streiten.
Das Ganze hatte zwei durchaus gegensätzliche Pole: zum einen die Kleinodien Bachs, die Choräle, in ruhigen, zuweilen und zu Recht besinnlichen Tempi bei je natürlicher Agogik und Dynamik und dann wieder rasante Tempi, welche die Ausführenden bis an die Grenzen forderte, aber um den Preis des völligen Verschwimmens der Konturen zu akustischem Klangbrei in der schwierigen Münster-Akustik.
Dass die weihnachtliche Freude ihren Niederschlag in raschen Tempi fand, ist nur allzu verständlich. Das ist aber für die hinteren Reihen im Münster von größtem Nachteil, zumal wenn man dem Axiom eines Heinrich Schütz nach der adæquatio textus folgt, also die musikalische Annäherung an den Text als unumgängliche Voraussetzung der Interpretation: Dass etwa der Lobgesang der Engel („Ehre sei Gott“) entsprechend mitreißt, kann man nachvollziehen (die Chor-Koloraturen sind dann aber grenzwertig). Doch die empathische Tröstung im Mitleid (Duett Sopran/Bass in der 3. Kantate) oder die dort besungene „holde Gunst und Liebe“ vertragen keine Hektik (bei Rilling war das leider auch so: unreflektiert, weil nur-musikalisch verkürzt?). Wie schön, dass der Solobass sich im Duett dialogisch wunderbar zurücknahm!
Die jungen Solisten überzeugten alle: die sympathische Stimmbildnerin des „Phil-Chors“, Anna Escala, mit ihrem lyrischen Timbre. Der Einfall, den „Engel“ von der Empore herab die frohe Botschaft singen zu lassen, war einfach nur toll, die Wirkung berückend. Den zweiten Teil des Engelsgesangs hat Bach wieder dem Tenor zugeordnet. Diesen Fauxpas darf man ohne Not korrigieren.
Die Altistin Sonja Koppelhuber hatte im Gegensatz zu manchen Mezzosopran-Kolleginnen oder (mit Druck pressenden) „Countern“ keinerlei Problem mit runder sonorer Tiefe. Und die Höhe hatte ebenso Schmelz.
Den Namen Stephan Scherpe wird man sich merken müssen: ein glänzender lyrischer Tenor mit natürlicher Präsenz bis in extreme Höhen, einer prophetisch anmutenden Textdeutung des Evangeliums bei feiner Agogik und sagenhaften Koloraturen in der Frohe-Hirten-Arie. Trotz Tempo an der Obergrenze litt der Dialog mit der Querflöte einer brillanten Alicja Ratusinska an keiner Stelle.
Berückender Engelsgesang von der Empore
Padraic Rowan sang in allen Belangen einen tollen Charakterbariton. Besonders schwierig waren die Voraussetzungen bei seiner Bravour-Arie „Großer Herr und starker König“, weil die (ebenso brillante) Solotrompete Christian Nägeles weit entfernt platziert war.
Bernhard Fausers Programmeinführung half in bekannt bester Güte zum Verständnis vieler Details.
Der Kunstgriff, statt dem Da-Capo-Chor („Herrscher des Himmels“) als Schluss der dritten Kantate jenen der sechsten zu nehmen (Soloquartett-Rezitativ „Was will der Hölle Schrecken nun“ und Choral „Nun seid ihr wohl gerochen [= gerächt]), ist vom Höreffekt her ein mitreißender Abschluss, wenngleich quasi im frühen Vorgriff auf die Gräuel des morden lassenden Herodes tolerierbar.
Über die Leistung von KMD Stephan Beck kann man nur mit größtem Respekt staunen: Er hatte gestisch alles in der Hand. Allein die Rezitative oder z. B. die Atemzäsuren in der Alt-Arie „Schlafe, mein Liebster“ (in Kantate 2) gelangen so selbstverständlich wie die Ausdrucksansteckung in Einsätzen und dynamischen Anforderungen an den prächtigen Chor.
Das dramatische Ganze verfehlte nicht seine respektable Wirkung Lang anhaltender Beifall dankte für eine gelungene Aufführung.